Des
Kaisers neue Medikamente
Die
Diagnose Depression, und mit ihr die Verordnung von
Antidepressiva, hat in den letzten vierzig Jahren
einen beispiellosen Anstieg erlebt. Der Umsatz mit
Antidepressiva betrug 2002 weltweit etwa 17,1
Milliarden Dollar. Der Handel mit Antidepressiva ist
damit der drittgrösste Umsatzbringer der
Pharmabranche. Die antidepressive
Wirksamkeit von Antidepressiva, und zwar neuerer wie
alter Substanzen, ist jedoch zweifelhaft und
umstritten.
Der
Nachweis einer antidepressiven Wirkung, die
erheblich über der von Placebos liegt, konnte bisher
nicht erbracht werden. Diese Nicht- Nachweisbarkeit
ist 2002 von Kirsch und anderen penibel belegt
worden.
In
einer sogenannten Metaanalyse haben die
Wissenschaftler (
Kirsch et al. 2002: The Emperors New Drugs, in:
Prevention & Treatment, Volume 5, Article 23,
July 2002 ) sämtliche bei der FDA (amerikanische
Zulassungsbehörde)vorhandenen Daten aus den
Zulassungsverfahren für sechs Antidepressiva
überprüft und neu bewertet. Es handelt sich um die
sechs am weitesten verbreiteten Antidepressiva (im
folgenden AD genannt), nämlich:
Fluoxetin
(Prozac, Fluctin),
Paroxetin (Seroxat, Euplix),
Sertralin (Gladem, Zoloft),
Venlafaxin (Trevilor, Effexor, Efectin),
Citalopram (Cipramil, Sepram) und
Nefazodon (Serzone, nicht mehr auf dem Markt),
die
alle zwischen 1987 und 1999 zugelassen wurden.
In
den von Kirsch et al. 38 bewerteten Studien
(randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert)
wurden AD an ca. 7000 Patienten getestet. Das
Ergebnis der Metaanalyse ist, dass mehr als die
Hälfte der Studien keine signifikante
Besserung durch das Medikament im Vergleich
zum Placebo nachweisen konnten.
1)
82 Prozent der erreichten Besserung durch
Medikamente wurde auch durch Placebo
erreicht, bei Fluoxetin (Fluctin, Prozac) sogar 89
Prozent.
2)
Der Unterschied (Medikament/ Placebo)in der
Ausprägung der Depression (Hamilton Depression
Skala(HAM-D)) nach einer Behandlung ist verschwindend
gering und wird deshalb als klinisch nicht
relevant eingeschätzt.
3)
Die Besserung bei hoher Dosis unterscheidet sich
nicht signifikant von der bei niedriger Dosis, es
besteht also keine erkennbare Dosis-
Wirkungsbeziehung wie etwa beim Insulin.
Bei
aller angebrachten Reserve auch gegenüber dieser
Studie kann man sich doch des Eindrucks kaum
erwehren, dass Ärzteschaft, Patienten und die zwar
kritische, aber wissenschaftlich naive und
wissenschafts- gläubige Öffentlichkeit von der
Industrie dauerhaft genasführt werden.
Industriefinanzierte
Studien führen zu von der Industrie erwünschten,
nämlich positiven Ergebnissen. Auch die Innovation
durch den Einsatz anderer Substanzen ist fragwürdig:
immer neue Generationen von "besseren" und angeblich
wirksameren und nebenwirkungsarmen Substanzen haben
anscheinend lediglich die Art der Nebenwirkungen
verändert.
"Church of the poisoned Mind": Warum
glaubt alle Welt an die Effektivität der Antidepressiva ?
Die
Effektivität von ADs scheint zu einem
unumstösslichen Dogma geworden zu sein. Die
Gläubigen sind gegen Kritik oder Zweifel nahezu
immun. Dieses gläubige Verhalten lässt sich auch
folgendermassen deuten:
die
Depression mit der ihr eigenen Hoffnungslosigkeit,
ihrem totalen Verstummen, dem Auflösen aller
alltäglichen Sicherheiten und ihrem offenbar
unendlichen Leid für den Betroffenen ruft im nicht-
depressiven Anteilnehmenden den Schrecken eines
gähnenden Abgrunds hervor. Der Schrecken vor der
Leere führt zu einer Abwehrhaltung, nach der dann
unbedingt etwas "dagegen" gemacht werden muss. Die
totale Heillosigkeit lässt den von Ansteckung
Bedrohten das Heil in der trügerischen Sicherheit
des vermeintlich wissenschaftlichen, psychiatrischen
Stoffwechsel- Diskurses suchen.
Dieses
(man ist versucht zu sagen) religiöse
Berdürfnis nach Heil angesichts absoluter
Heillosigkeit nutzt die Pharmabranche zur
Vermarktung ihrer zweifelhaften Produkte. Sie tut
dies dies mittels einer ausgefeilten Strategie, die
sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt:
1.)
agressive Werbestrategien:
a) Ärzte: Zeitschriftenwerbung in Fachblättern, die
Wunder verspricht; das Aufdrängen von geldwerten
Vorteilen wie Reisen etc durch Pharmareferenten.
b) Öffentlichkeit: Versorgung von Journalisten mit
"Sachinformation", die mangels kritischer Prüfung
direkt in "sachliche" Artikel einfliesst.
2.)
Lobbyarbeit :
a) Aufnahme renommierter
Wissenschaftler (opinion leaders) in die
Gehaltsliste von Pharmafirmen,
b) sogenannte Kompetenznetzwerke, Anti- Stigma-
Kampagnen und Aufklärung von Medizinerseite als
Werbeträger
c) Internet: als private Selbsterfahrungsseiten
getarnte Arzneimittelwerbung - und
3.)
kreatives Erfinden
immer neuer Einsatzgebiete aus dem Bereich
sowohl ernstzunehmender Krankheiten (Angst,
Migräne(Zolmitriptan, AscoTop),
Schlafstörungen(Insidon)) wie auch der
Alltagswehwehchen (Ängste,
Verstimmungen,Raucherentwöhnung(Bupropion, Zyban)).
Sachzwänge
In
Deutschland besteht in der psychiatrischen Klinik
generell die Tendenz, aufgrund von Kostendruck und
Personalabbau mehr Medikamente zu verabreichen,
allein schon um einen reibungslosen Betriebsablauf
zu gewährleisten. Der nicht wirklich
quantifizierbare, aber erfahrungsgemäss
wirkungsvolle Behandlungsfaktor Zuwendung durch
Gespräch etc. wird zugunsten eines
scheinwissenschaftlichen und scheinbar
quantifizierbaren Behandlungserfolgs mit
Psychopharmaka zurückgedrängt. Weniger Personal =
Weniger Zuwendung = Mehr Valium (Valium steht hier
für alle Sedativa und diese für alle psychiatrischen
Arzneimittel). Gleichzeitig muss im Zuge der
Abrechnung sowie der sogenannten Qualitätssicherung
und Zertifizierung jeder Behandlungsschritt
dokumentiert werden, was den Ärzten noch weniger
Zeit zur Hinwendung zum und zum Nachdenken über den
Patienten lässt. So wächst aus prosaischen Gründen
(Behandlung hat wirtschaftlich zu sein!) eine Kultur
des Verordnens und Verabreichens ohne Sinn und
Verstand und ohne ein Gefühl für die eigene Ohnmacht
angesichts DER STÖRUNG. Unsere Oberen in der
Pharmaetage freut's.
Virtus
dormitiva
"Warum
schläfert Opium ein?" wird (bei Moliere) der
Prüfling zum Doktor der Medizin gefragt. Die Antwort
des Prüflings lautet: "Weil in ihm ein
einschläferndes Prinzip wirkt."
Einschläfernd
ist auch der Glaube an das durch blosse
Medikamentengabe induzierte Heil, besonders wenn er
im Gewand der Wissenschaftlichkeit auftritt. Wirkt
denn im Antidepressivum ein antidepressives Prinzip
? Oder wirkt es nicht vielmehr im nicht
quantifizierbaren Beziehungsraum zwischen Helfer und
Hilfesuchendem ?
M.S.
Siehe
auch:
SSRI
Antidepressants probably Trigger Killings
--- by Kelly Patricia O'Meara
Prozac-
(Fluctin) Gefahren vertuscht durch
Hersteller Lilly
PSYCHED
OUT by Kelly Patricia O'Meara
Schafft
die Pharmaindustrie neue Abhängigkeiten ? (Bericht
über die AD- Kritik von Charles Medawar)
sowie
das Antidepressiva- Forum mit kritischen
Informationen zu ADs.