"
Nicht der psychisch Kranke ist krank,
sondern die Gesellschaft in der er lebt."
(frei nach R. v. Praunheim)
Man muss sich immer vor Augen halten, daß es bei der Therapie von "psychisch
Kranken" nicht nur um die Heilung von Leiden, sondern zugleich auch um die
Normalisierung des Abweichenden geht.
Es spricht alles dafür, dass das
individuelle Kranksein unter anderem eine durchaus gesunde Reaktion auf die -
nur sehr begrenzt menschenfreundlichen - Verhältnisse in der Leistungs- und
Konsumwelt ist.
Was gemeinhin als "psychische Krankheit" eingeordnet wird, ist deshalb
nicht nur Ausdruck persönlicher Defizite: es ist eine Art, sich in einer
unhaltbaren Lage dennoch als selbstbestimmter Mensch zu behaupten.
So gelesen,
enthält der "Defekt" des nicht mehr funktionierenden Menschen eine
Kritik an den Verhältnissen, in denen sein Funktionieren erwartet wird.
Paradigmawechselstörung
Die
Psychiatrie hat sich sicher verändert seit den siebziger Jahren, trotzdem
muss ich mir noch oft an den Kopf fassen ob der Ignoranz von sogenannten Fachleuten,
die immer noch dem Mechanismus der Stoffwechselstörungen nachjagen, die ja
in ihrer Auffassung "psychische Krankheiten" verursachen. Alles was
man ehrlicherweise sagen kann, ist, dass man über die Entstehung dieser Phänomene
nichts weiss.
Kein Zweifel, es gibt eine Korrelation zwischen Geist/ Seele und Gehirnchemie.
Trotzdem sollte man als seriöser Wissenschaftler nicht ohne Not miteinander
korrellierte Phänomene in Kausalzusammenhänge ummünzen. Anders
gesagt: das Auftreten einer seelischen "Störung" wie auch jedes
anderen Gedankens oder Gefühls geht offenbar einher mit chemisch-
elektrisch- biologischen Phänomenen. Nur eingleisige Köpfe erklären
deshalb Chemie, Biologie oder Elektrizität zur Ursache von Gedanken,
Gefühlen oder "Störungen". Wer immer das tut, verwechselt
die Ebenen eines hochkomplexen Systems und "löst"
das jahrtausendalte Leib- Seele- Problem nach Holzfällermanier.
Das
per se labile Individuum mit seinem Hunger nach Berührung, Bedeutung
und Beziehung wird so zum Objekt einer auf Zurichtung abzielenden instrumentellen
Sichtweise des Menschlichen. Statt eines gefährdeten Wesens mit diversen,
auch verrückten, Gedanken und Gefühlen möchte man anscheinend einen
stabilen - und auch fungiblen- Normalzombie erzeugen.
Die Vertreter der sogenannten biologischen (richtiger pharmakologischen) Psychiatrie
wie Benkert u. a. träumen von der perfekten Manipulierbarkeit von "Störungen"
auf chemischem Wege. Sie sehen sich als die Avantgarde der harten, nachweisorientierten
Wissenschaft. Wenn man aber genau hinguckt, erinnern diese "biologischen"
Psychiater eher an Klempner, die es ins Handwerk der Uhrmacherei und Feinmechanik
verschlagen hat. Die nachgehende Uhr wird dann eben erstmal einer Rohrreinigung
unterzogen, weil ja vermutlich der Abfluss verstopft ist.
Psychiatrie und die Produktion von Außenseitern
Die
"Krankheit" gehört zum Ganzen der Person und ist eine Form des
Ausdrucks, der als Phänomen zunächst oft unverständlich ist, aber
doch lesbar und begreifbar werden kann, vorrausgesetzt, man bringt das Interesse
dazu und die Geduld dafür auf. Was mit dem sogenannten Kranken geschieht,
hat seinen Sinn, den wahrzunehmen erlernbar ist.
Das "Verrücktsein"
stößt aber gemeinhin auf Unverständnis, Angst und Spott.
Für
mich gehört die "Störung" einfach zum menschlichen Kosmos
(Fredi Saal) und ist zwar unter Umständen leidvoll, aber keine Katastrophe.
Wirklich schlimm ist die auf das Verrücktsein folgende Ausgrenzung durch
dumme und weniger dumme Menschen. Ich bin überzeugt, dass es halb so wild
ist, durch so eine Krise hindurch zu gehen, wenn man nicht gemieden, verlacht,
für nicht geschäftsfähig, unmündig, gefährlich (und was
der Zuschreibungen mehr sind) erklärt wird.
Die Versuche, den "psychisch
Kranken" zu entstigmatisieren, indem man um Verständnis für ihn
wirbt, scheinen mir an der Sache vorbeizugehen.
Notwendig scheint mir zu sein,
dass sich die Gesellschaft darum Gedanken macht, wie sie mit ihren Randbewohnern
umgeht.
"Vorurteile
und Diskriminierungen sind nicht Merkmale der betroffenen Minderheit und nicht
bei ihnen zu kurieren, vielmehr bestehen sie in den Köpfen der Mehrheit.
Stigmata, Stereotype oder Vorurteile sind Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung.
Im gleichen Maße, wie die stigmatisierenden Einstellungen sich milderten,
würde die soziale Lage der Stigmatisierten sich bessern:Unberührbarkeit
und Kommunikationsbarrieren würden fallen, Arbeitsplätze stünden
offen, die Segregation wäre aufgehoben. Entstigmatisierung kann nur insoweit
gelingen, als die diskriminierenden Einstellungen der Gesellschaft verschwinden."
(Hohmeier, Stigmatisierung)
Projektion
als Selbst- und Massenbetrug
Nicht
psychische Krankheit ist erklärungsbedürftig, vielmehr das immer wiederkehrende
Bedürfnis der Dummen und Zynischen, Außenseiter als Projektionsfläche
ihrer Ängste und Hassgefühle zu missbrauchen und sie damit erst wirklich
zu solchen zu machen.
Der Verrückte, der Penner, der sexuell anders orientierte,
der Mensch mit anderer Hautfarbe, der mit anderen kulturellen Präferenzen
etc. ist das nützliche Vehikel dieser Vorgehensweise.
Feindseligkeit
ist immer leicht zu wecken - und die immer latent vorhandenen Ressentiments werden
gerne genutzt, um von tatsächlichen Missständen abzulenken, etwa Ungerechtigkeit
in sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen.
Die Produktion von Außenseitern
hat damit eine wichtige Funktion bei der Aufrechterhaltung schlechter Bedingungen.
Man kann
sich umso normaler und angepasster, eben wie ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft
fühlen, wenn man sich von Andersartigen (die, wenn man hinguckte, gar nicht
so andersartig sind) wohltuend unterschieden fühlt.
Die eigenen Ängste
finden ihren Ausdruck im Anderen, statt an sich selbst schmerzhaft wahrgenommen
werden zu müssen, angestaute Hassgefühle finden ihre wohlfeile Abfuhr,
statt auf die eigenen Missstände zu verweisen und Änderungen herauszufordern.
Vorläufiges
Fazit: Wenn das Stigmatisieren aufhören soll, kann es nur darum gehen,
Bedingungen zu schaffen, unter denen Projektion und Ausgrenzung überflüssig
werden.
Frage: Welcher Art sind diese Bedingungen ?
Nachtrag zum 11.9.2006, fünfter Jahrestag des WTC- Attentats
Terrorangst
Die Funktion der geschürten Terrorangst ist es, rassistische Vorurteile zu bestätigen, die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten durchzusetzen, die Stimme der kritischen Vernunft mundtod zu machen.
Es könnte alles so schön sein, wenn bloß der böse Feind nicht wär...
Die massenmedial gesteuerte Wahrnehmung des Anderen als fremd und bedrohlich erzeugt auf seelischer Ebene eine scheinbare Stärkung der längst brüchigen Identität: auf gesellschaftlicher Ebene "Einigkeit" dort, wo stets nur Einzelinteressen verfolgt werden. Der einzelne Bürger, dessen wirtschaftliche Existenz stets gefährdet ist, soll die tatsächliche Bedrohung durch Arbeitslosigkeit, sozialen Statusverlust, Wegfall sozialer Sicherung verdrängen und das dumpfe, frei flottierende Angstgefühl auf scheinbar konkrete Bedrohungen umlenken.
Neue "Juden"
Wie bisher schon und immer noch im Antisemitismus gelingt dies nun auch im Schüren des Hasses auf - und der Angst vor - Muslime(n), die als das Schreckbild des Fremden "an sich" massenmedial aufgebaut werden. Das rassistische Ressentiment ist, für sich genommen, unspezifisch, bezieht sich zunächst auf keine besondere Gruppe; kann aber, wie man sieht, immer aktiviert werden und - im Prinzip auf jeden "andersartigen" Menschen (Geschlecht, Herkunft, Religion, Hautfarbe, sozialer Status etc.etc.) gerichtet werden. Das es nun "die Muslime" trifft, ist nicht zufällig, sondern berechnet.
Gegengift
Skepsis, Skepsis und nochmals Skepsis: das Erkennen von "Information" als interessegeleitet kann dabei helfen, kalkulierten Unsinn und tendenziöse Falschmeldungen als solche einzuordnen. Die syntaktische Form der Wahrheit ist nicht die Feststellung, sondern die Frage.
Nachtrag zum 11.9.2010: Adorno/ Horkheimer:
Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung von Bünden, Fronden und Rackets. Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei. Zu anderen verhielt sich die etablierte Gruppe stets paranoisch; die großen Reiche, ja die organisierte Menschheit als ganze haben darin vor den Kopfjägern nichts voraus. Jene, die ohne eigenen Willen von der Menschheit ausgeschlossen waren, wußten es, wie jene, die aus Sehnsucht nach der Menschheit von ihr sich selbst ausschlossen: an ihrer Verfolgung stärkte sich der krankhafte Zusammenhalt. Das normale Mitglied aber löst seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns. Der horror vacui, mit dem sie sich ihren Bänden verschreiben, schweißt sie zusammen und verleiht ihnen die fast unwiderstehliche Gewalt. Mit dem bürgerlichen Eigentum hatte auch die Bildung sich ausgebreitet. Sie hatte die Paranoia in die dunklen Winkel von Gesellschaft und Seele gedrängt. Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes erfolgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt sich auf die Erfassung des isoliert Faktischen. Gedankliche Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen. Das Entwicklungsmoment im Gedanken, alles Genetische und Intensive darin, wird vergessen und aufs unvermittelt Gegenwärtige, aufs Extensive nivelliert. Die Lebensordnung heute läßt dem Ich keinen Spielraum für geistige Konsequenzen. Der aufs Wissen abgezogene Gedanke wird neutralisiert, zur bloßen Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten und zur Steigerung des Warenwerts der Persönlichkeit eingespannt. So geht jene Selbstbesinnung des Geistes zugrunde, die der Paranoia entgegenarbeitet. Schließlich ist unter den Bedingungen des Spätkapitalismus die Halbbildung zum objektiven Geist geworden. In der totalitären Phase der Herrschaft ruft diese die provinziellen Scharlatane der Politik und mit ihnen das Wahnsystem als ultima ratio zurück und zwingt es der durch die große *und die Kulturindustrie ohnehin schon mürbe gemachten Mehrheit der Verwalteten auf. Der Widersinn der Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen, daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am Leben zu erhalten. Nur Verfolgungswahnsinnige lassen sich die Verfolgung, in welche Herrschaft übergehen muß, gefallen, indem sie andere verfolgen dürfen.