Das
Portrait (...) trug früher den Titel 'Der wahnsinnige
Mörder', später hiess es 'Der Kleptomane'. Heute wird
es als 'Monomanie: der Dieb' aufgeführt. Niemand kennt
mehr den wirklichen Namen des Mannes. Er war ein
Insasse der Pflegeanstalt La Salpetriere im Zentrum
von Paris. Dort malte Gericault zehn Portraits von
Menschen, die als geisteskrank klassifiziert waren.
Fünf dieser Bilder haben überlebt.
John
Berger, Der Mann mit dem zerzausten Haar.
Quelle: Frankfurter Rundschau 1991 Gesamter
Text
Achtung, Fallensteller: "An ill for
every pill"
Klaus
Dörner über die Gesundheitsfalle
Um die Fallensteller
leichter und besser zu erkennen und um uns von ihren
Gesundheitsfallen, die inzwischen unseren Weg auf
Schritt und Tritt säumen, besser fernhalten zu können,
will ich im Folgenden einige von ihnen exemplarisch
beschreiben:
1.In den letzten
Jahrzehnten ist die Wirksamkeit schmerztherapeutischer
Verfahren dramatisch gesteigert worden. Es gibt kaum
noch einen Schmerzzustand, dem nicht angemessen begegnet
werden kann. Im selben Maße hat sich jedoch die Zahl der
Schmerzkranken nicht etwa verringert, sondern im
Gegenteil geradezu inflationär vergrößert. Wie ist das
möglich? Unabhängig davon, dass beispielsweise mancher
Krebskranke auch heute noch frühzeitiger und großzügiger
auf Morphinpräparate eingestellt werden müsste, hängt
dieses Paradoxon etwa damit zusammen, dass gerade die
Therapieerfolge die Erwartung und den Rechtsanspruch auf
Herstellbarkeit von Schmerz- beziehungsweise
Leidensfreiheit auslösen. Deshalb werden Schmerzen schon
bei immer geringerer Intensität nicht mehr als gesund,
als normale Befindlichkeitsstörung oder als
schicksalhaft erlebt, sondern als immer unerträglicher.
(. . .) Damit werden die Schmerzempfindungen - eine
völlig normale Sinnestätigkeit - nicht mehr als positiv
wichtige Signale für Gefahren oder auch nur als
Widerstände im Rahmen einer gesunden Lebensführung
gewertet, sondern nach der "Ethik des Heilens" als
Krankhaftes und damit von Experten chemisch oder
psychisch Wegzumachendes aus dem eigenen
Kompetenzbereich ausgegrenzt. Während bisher der eigene
Umgang mit Störung, Schmerz oder Leiden auch Quelle
einer kreativen Leistung sein konnte, tritt dies jetzt
zurück zu Gunsten des fiktiven Ideals einer nur noch
selbstbezogenen, unendlich steigerungsfähigen Gesundheit
als unendlich steigerungsfähige Schmerz- und
Leidensfreiheit. All dies wird nun noch dadurch
potenziert, dass Diagnostik und Therapie des Schmerzes
zu einer eigenständigen medizinischen Fachdisziplin
institutionalisiert werden und damit Eigeninteresse
gewinnen.
2.Auf ähnliche Weise
und mit ähnlich katastrophalen Folgen wird das Terrain
des Gesunden auch auf dem Gebiet anderer Störungen
fortlaufend verkleinert, das Terrain des Krankhaften
also künstlich aufgebläht. Das gilt etwa für den Umgang
mit Schlafstörungen, Essstörungen, Angst und
Aufmerksamkeitsstörungen (bei Kindern), aber auch für
unerwünschte Kinderlosigkeit oder bestimmte
Schönheitsmängel.
3.Der klinische
Pharmakologe Frank P. Meyer fragt sich: "Warum werden
gesunde Menschen durch unbiologische und
unphysiologische Grenzwerte (Blutdruck, Lipide) in die
Nähe von Krankheit und Therapiebedürftigkeit gerückt?"
Er weist diesen auch durch die Interessen der Industrie
bedingten Missbrauch von Patienten nach, etwa für
Hochdruckkranke, aber auch für die Hormonbehandlung in
der Menopause und für die Behandlung der Altersdementen
mit Antidementiva, die zum Teil zwar nicht ganz
unwirksam sind, jedoch so wenig wirksam, dass man von
einer Wirkung so recht nicht sprechen kann. Hinsichtlich
dieses wie auch anderer Felder spricht er von einer
"Übertherapie". Die mangelnde Zusammenarbeit der
Patienten mit den Ärzten (Non-Compliance) als beliebte
Erklärung der Ärzte für therapeutische Erfolglosigkeit
wendet er gegen die Ärzte selbst, da hier in
Wirklichkeit häufig mangelnde Zusammenarbeit der Ärzte
mit dem Patienten vorliegt. So formuliert er als
anstehendes Lernprogramm: "Werden es die Ärzte zu Beginn
des 3. Jahrtausends lernen, persönliche Erfahrungen mit
wissenschaftlichen Erfahrungen zu verknüpfen, um ihre
Patienten rational und individuell behandeln zu können?"
4.Genauso gibt es
aber auch eine "Überdiagnostik": Denn die Anzahl der an
einem Patienten vorgenommenen Untersuchungen entscheidet
über die Wahrscheinlichkeit, ob er zum Schluss eine
Diagnose haben wird, also ob er zu den Gesunden oder zu
den Kranken zu rechnen ist. In diesem Bereich eröffnen
die fahrlässigerweise immer noch nicht gesetzlich
geregelten prädiktiven Gentests eine neue Dimension: Sie
bescheren uns eine bislang noch nicht existierende
Bevölkerungsgruppe, nämlich die der
"Noch-nicht-Kranken", denen man mit einer so verordneten
Existenz, gleichsam auf einer Zeitbombe lebend, ihr
gesundes "selbstvergessenes Weggegebensein" wohl
erfolgreich ausgetrieben haben dürfte.
5.Während der Moderne
(seit 1800) bestand in der Arbeitswelt bei
Vollbeschäftigung eine "gesunde Mischung" von
leistungsmäßig Stärkeren und Schwächeren im Sinne der
Normalverteilung. Dieses Verhältnis wird spätestens seit
1980 durch eine wettbewerbsbedingte gnadenlose
"Entmischung" ersetzt. Im Arbeitsbereich entstand eine
Monokultur der Leistungsstärkeren, während die
Langzeitarbeitslosen zunehmend eine Monokultur der
Leistungsschwächeren darstellten. Aber die Gesundheit
wird zunehmend beiden Monokulturen ausgetrieben, den
Stärkeren, weil sie zu viel, den Schwächeren, weil sie
zu wenig zu tun haben . (. . .)
6.Dieses
Entmischungsprinzip hatte aber schon im 19. Jahrhundert
gesundheitsschädigende Auswirkungen für alle
Beteiligten. Um nämlich alle Erwerbsfähigen aus den
Familien der durch die Industrialisierung zum ersten Mal
möglich werdenden Vollbeschäftigung zuführen zu können,
mussten sie von der Sorge für die sorgebedürftigen
Familienmitglieder befreit, ent-sorgt werden. So
entstanden flächendeckende Netze sozialer Institutionen
für Sieche, geistig Behinderte, Körperbehinderte,
psychisch Kranke und Altersverwirrte. So unsichtbar
gemacht, gehörten die Sorgebedürftigen und die
Verantwortung für sie nicht mehr zu der als gesund
empfundenen normalen Lebenswelt. Das führte zu einer
Entwertung der institutionalisierten Bürger auf der
einen Seite und der Instanzen der bisherigen
Sozialgesellschaft (Familie, Nachbarschaft, Kommune) auf
der anderen Seite.
7.Ähnlich verhält es
sich mit den Alten und Altersverwirrten. Diese haben
sich dank des medizinischen Fortschritts zwar erst im
20. Jahrhundert zu einer nennenswerten
Bevölkerungsgruppe vervielfacht, manche sagen epidemisch
inflationiert, was uns emotional und finanziell
überfordere. Für unseren jetzigen Zusammenhang ist es
aber wichtiger, dass man noch um 1900 aus dem
Krankenhaus zum Sterben nach Hause ging, während man
heute in der Regel im Krankenhaus oder im Heim stirbt.
Da man zudem in jetzigen Zeiten nicht mehr in jedem
Lebensalter gleich wahrscheinlich, sondern fast nur noch
im Alter stirbt, gilt auch hier: Sterben und Tod sind
institutionell unsichtbar geworden, gehören nicht mehr
zur als normal und gesund erfahrenen Lebenswelt. Dadurch
konnte mangels sinnlicher, pathischer Anschauung die
Angst vor dem Sterben und dem Tod irreal zunehmen - mit
allen fatalen Folgen für die Gesundheit, wie etwa dem
Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder der mangelhaften
Fähigkeit der Bürger, ihr Leben von ihrem Tod, von ihrer
Endlichkeit her zu begreifen und sich selbstvergessen
wegzugeben: "Wer leben will, ohne zu sterben, wird
sterben, ohne gelebt zu haben."
8.Aber auch der
andere, noch größere, reale medizinische
Fortschrittserfolg, nämlich die therapeutische
Beherrschbarkeit vieler Akuterkrankungen, hat das
Terrain des Gesunden mehr verkleinert als vergrößert.
Denn viele von denen, die früher gestorben wären, leben
heute weiter, jedoch oft in der ebenfalls erst im 20.
Jahrhundert mengenmäßig neuen menschlichen Seinsweise
des Chronisch-Krankseins, Tendenz steigend, sodass
chronisch Kranke bald den ärztlichen Normalfall
darstellen, ohne dass die Medizin schon die dafür
angemessene Einstellung gefunden hätte.
9.Seit Rechtsanwälte,
Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter von der
gesetzlichen Betreuung (vormals Vormundschaft) leben
können, hat sich in zehn Jahren die Zahl der Betreuten
auf etwa eine Million mehr als verdoppelt. Der
entsprechende Berufsverband will natürlich weiter
expandieren, hält daher sechs Millionen Bundesbürger für
betreuungsbedürftig. Ist es dann verwunderlich, dass man
von der vornehmsten gesetzlichen Aufgabe der Betreuer,
nämlich Betreuungen überflüssig zu machen und eine
gesunde Autonomie zu fördern, kaum etwas hört?
10. Die zunehmende
Überantwortung der Gesundheit an die Wirtschaft zwingt
zur Erschließung immer neuer Märkte. Das Ziel muss
letztlich die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein,
also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl
chemisch-physikalisch als auch psychisch für
behandlungsbedürftig halten, um "gesund leben" zu
können. Das gelingt im Bereich der körperlichen
Erkrankungen schon recht gut, im Bereich der psychischen
Störungen aber noch besser. Denn hier gibt es keinen
Mangel an Theorien, nach denen fast alle nichtgesund
sind, vor allem, wenn das "vollständige Wohlbefinden"
fehlt. Das zeigt einmal mehr, wie fragwürdig die analoge
Übertragung des Krankheitsbegriffs vom Körperlichen auf
das Psychische ist. Wo partout keine Bedürfnisse sind,
muss man solche künstlich herstellen, was mit
entsprechenden Werbestrategien auch gelingt ("An ill for
every pill"). (...)