A)
Merkmale abweichenden oder gestörten Verhaltens.
Keines davon gilt für alle derzeit als psychisch gestört betrachtete
Verhaltensweisen.
1. Abweichung von der statistischen Norm
•bestimmte Merkmale von Personen kann man messen (z.B. Intelligenz, Schüchternheit
usw.) |
Anm.: der Wert vieler Testverfahren, besonders IQ- Tests ist äusserst zweifelhaft,
die "gemessenen" Qualitäten sind oft nicht quantifizierbar |
•für
meßbare Merkmale kann die Häufigkeitsverteilung der Merkmalsausprägungen
(Intensität) in der Bevölkerung ermittelt werden
•"Normal
sein" in Bezug auf eine statistische Verteilung bedeutet in der Regel keine große
Abweichung vom Durchschnitt haben oder Zugehörigkeit zu den mittleren 50
% der Verteilung
•Personen
mit extremeren Merkmalsausprägungen wären im rein statistischen (nicht
im wertenden) Sinne normabweichend
•Eine rein statistische Definition für abweichendes Verhalten oder
psychische Gestörtheit ist nicht möglich. Je nach Merkmal wird eine
starke Abweichung von der Norm als erwünscht und ungestört oder als
unerwünscht, hinderlich und gestört bewertet.
•Eher
erwünschte Normabweichungen: hohe Intelligenz, hohe sportliche Fähigkeiten,
geringe Aggressivität
•Als
gestört geltende Normabweichungen: extrem geringe Intelligenz (geistige Behinderung:
IQ < 70), extrem hohe Aggressivität
2. Abweichung von einer sozialen Norm
•Abweichendes
oder als gestört klassifiziertes Verhalten widerspricht in manchen
Fällen sozialen bzw. kulturellen Normen. So fällt ein Maniker
möglicherweise dadurch auf, daß er völlig fremde Menschen ohne
sozial üblichen Anlaß beschenkt, umarmt und ihnen evtl. sogar sexuellen
Kontakt anbietet. Auch Schizophrene können mitunter unübliches,
normverletzendes Verhalten zeigen (bspw. bei schönem Hochsommerwetter
mit Gummistiefeln, Plastikmantel und Regenhaube herumlaufen und zufällig
vorbeikommende Passanten lautstark und eindringlich vor gefährlichen Strahlen
und bösen Mächten warnen).
•Kriminelle
Handlungen und Prostitution verletzen ebenso soziale Normen, werden jedoch nicht
ohne weiteres als psychisch gestörtes Verhalten gewertet.
•Andererseits
verletzt eine depressive oder hochängstliche Person in vielen Fällen
keine soziale Norm und würde dennoch als erheblich gestört betrachtet
werden.
3. Persönlicher Leidensdruck
•Angst-,
Zwangstörungen und Depression sind wie viele andere psychische Störungen
mit subjektivem Leid/ Qual verbunden.
•Persönliches
Leid entsteht aber auch durch Hunger oder den Tod eines Angehörigen. In
diesen Fällen spräche man nicht von einer psychischen Störung oder
abnormem Verhalten.
•Es
gibt auch als psychisch gestört bewertete Zustände, bei denen der Betroffene
weder subjektives Leid empfindet noch sich psychisch krank fühlt (manche
Fälle von Manie, isolierten wahnhaften Überzeugungen und antisozialer
Persönlichkeitsstörung).
•Das
Ausmaß an Leid ist außerdem subjektiv, kaum konsensuell definierbar.
4. Unfähigkeit oder Dysfunktion
•Viele
psychische Störungen sind mit erheblichen Einschränkungen des sonst
(vorher) üblichen Lebens verbunden. Der Agoraphobiker und ein Zwangsgestörter
haben mitunter große Probleme, das Haus zu verlassen oder einer regelmäßigen
Arbeit nachzugehen.
•Bei manchen psychischen Störungen ist es schwierig, von einer
Unfähigkeit oder Dysfunktion zu sprechen (bei manchen Transvestiten
bzw. Fetischisten). |
Anm.:sexuelle Vorlieben zu psychischen Störungen zu erklären, scheint
mir zweifelhaft |
•
Was dysfunktional oder einschränkend ist, ist oft eine subjektive Wertung.
•Beispiel:
zu geringe Körpergröße verhindert, Mitglied eines professionellen
Basketballteams zu werden. Diesen Zustand würde man sicher nicht zu den psychischen
Störungen rechnen.
5. Hoher Stellenwert von Dysfunktion bzw. Unfähigkeit:
•Menschen
besitzen allgemeines und kulturspezifisches Wissen, Vorstellungen und Erwartungen
darüber, was ein Mensch "normalerweise" kann und was nicht. Auch die psychisch
Gestörten selbst vergleichen oft ihren derzeitigen Zustand / ihre Fähigkeiten
mit dem / denen vor "Erkrankungsbeginn" und kommen zum Schluß, daß
der veränderte Zustand als Störung zu bewerten sei.
•Einige
Ansichten darüber, was ungestörte Funktionen beim Menschen sind, sind
interkulturell gleich, andere sind eher kulturspezifisch.
•Mit sich änderndem, erweiternden Wissen über die "normalen" psychischen
und körperlichen Funktionen sowie über die die Entstehungswege von Dysfunktionen
ändert sich die Definition dessen, was "gestört" bzw. abweichend ist.
B) Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen
•Die
beiden nachfolgend genannten Klassifikationssysteme wollen operationale Kriterien
für Diagnosen psychischer Störungen geben.
•Sie
wollen Entscheidungsregeln für deskriptive (beschreibende), möglichst
interpretationsfreie Befunde geben.
•In
ihren neuesten Versionen (DSM-IV und ICD-10) wurde eine weitere Angleichung und
Übertragbarkeit der diagnostischen Kategorien angestrebt
•Gegenüber früheren Versionen beider Systeme wurde zunehmend
mehr auf die Verknüpfung der Diagnoseklasse mit ätiologische Annahmen
verzichtet. |
Anm.:die Ursachen sogenannter psychischer Störungen sind unbekannt |
1. DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen,
4. geänderte Version; American Psychiatric Association):
Multiaxiales
Diagnose-System:
Achse
I:Psychische Störungen; auch Entwicklungsstörungen mit Beginn in Kindheit
o. Adoleszenz
Achse
II:Persönlichkeitsstörungen
Achse
III:Körperliche Störungen und Zustände
Achse
IV:Schwere psychosozialer, umweltbedingter Belastungen
Achse
V:Globale Beurteilung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus
Klassifikationsbeispiel: Alkoholabhängigkeit (Achse I), Antisoziale Persönlichkeit
(Achse II), Leberzirrhose (Achse III), Belastende Lebensumstände: Verhaftung,
Tod eines Kindes (Achse IV), Derzeitiges Funktionsniveau: 42 (Achse V). |
Anm.:"Antisoziale Persönlichkeit" ist eine sehr schwammige und zudem diffamierende
Klassifikation von zweifelhaftem Wert
Funktionsniveau 42: die Bezifferung hat kaum Aussagewert |
2. ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases, Injuries,
and Causes of Death, 10, geänderte Version; World Health Organisation, WHO):
Diagnostische
Kategorien:
•Organische
und symptomatische psychische Störungen (F00-F09): nachweisbare hirnorganische
Schädigung mit psychischen Störungen als Effekt (Demenz, Delir); Drogen-
und alkoholbedingte Schäden werden unter F1*) klassifiziert.
•Psychische
Störungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19): durch Alkohohl, Tabak,
und diverse Drogen verursachte psychische Störungen (von leichten Intoxikationserscheinungen
bis zu Abhängigkeit und strukturellen Hirnschäden, Demenz, Delir usw.).
•Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20-F29): Formen
der Schizophrenie mit Störungen des Denkens, des Wahrnehmens, des Gefühlserlebens,
des Identitätsgefühls, der Leistungsfähigkeit; Schizotype Störung:
nicht alle Kriterien der Schizophrenie, aber Affektverflachung, Denkanomalien
und exzentrisches Verhalten; Wahnhafte Störungen: isolierte wahnhafte Überzeugungen
ohne weitere Symptome einer Schizophrenie. |
Anm.:basiert auf der alten Klassifikation und Nosologie von Kraepelin und ist
ebenso wie diese zweifelhaft |
•Affektive
Störungen (F30-F39): drastische und phasenhaft stabile Veränderung der
Stimmung - Depression, Manie (gehobene Stimmung); in beiden Fällen ist eine
Veränderung des Aktivitätsniveaus verbunden; beide Störungen tendieren
zu wiederholtem Auftreten.
•Neurotische-,
Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-F49): Phobische Angststörungen,
Panikstörung, soziale Phobien, generalisierte Angststörung; Zwangsstörungen;
Belastungs- und Anpassungstörungen; dissoziative Störung (graduell unterschiedlicher
Verlust des Identitätsgefühls, des Erinnerns und der Körpermotorik
ohne somatische Ursache)
•Verhaltensauffälligkeiten
mit körperlichen Störungen (F50-59): Eßstörungen (Anorexie,
Bulimie, Erbrechen); nicht organisch bedingte Schlafstörungen; nicht organisch
bedingte, sexuelle Funktionsstörungen; psychische Auffälligkeiten im
Wochenbett; Mißbrauch von Substanzen ohne Suchtpotential;
•Persönlichkeits-
und Verhaltensstörungen (F60-F69): tief verwurzelte, starre und dauerhafte
Verhaltensmuster, die meisten Bereichen des Lebens betreffend; sich auswirkend
auf deutlich abweichende Muster des Denkens, Wahrnehmens, der Gefühle
und der Beziehung zu anderen (paranoide, schizoide, dissoziale, emotional instabile,
histrionische, anankastische, ängstliche, abhängige Persönlichkeitsstörung);
Störung der Impulskontrolle (Spielen, Stehlen); Störungen der Geschlechtsidentität
(Transsexualismnus); Störungen der Sexualpräferenz (Fetischismus,
Exhibitionismus usw.);
•Intelligenzminderung
(F70-79): leicht, mittelgradig, schwer; bezogen auf die kognitive Leistungsfähigkeit,
die sprachlichen, motorischen und sozialen Fähigkeiten. Das Risiko für
weitere psychische Störung ist erhöht.
•Entwicklungsstörungen
(F80-F89): Entwicklungstörungen des Sprechens, der schulischen Fertigkeiten,
der Motorik; Autismus;
•Verhaltens-
und emotionale Störungen der Kindheit (F90-F99): hyperkinetische -, Aufmerksamkeitsstörung;
gestörtes Sozialverhalten; emotionale Störung (Trennungsangst); Ticstörungen;
Mutismus; Einnässen; Stottern;
C) Probleme der Klassifikation
•Eine
Klassifikation ist mit dem Verzicht / Verlust spezifischer, individueller Information
verbunden.
•Die
Verwendung von Klassifikationskategorien führt mitunter ungerechtfertigt
zu einer Diagnose; Genau dann, wenn man über das beobachtete Verhalten
hinausgeht, das an eine Diagnose erinnert und Teil einer diagnostischen Kategorie
ist und es vom Diagnositiker subjektiv ergänzt wird (passend zur assoziierten
diagn. Kategorie), obwohl für die ergänzten Merkmale keine Beobachtungen
/ Bestätigungen vorliegen.
•Klassifikationen können Menschen stigmatisieren. Ob und wie stark
Stigmatisierungseffekte bestehen, ist noch unklar. Fatal wären stigmatisierende
Effekte bei Fehl- oder bloßen Verdachtsdiagnosen.
•Klassifikationssysteme
sind vorwiegend kategorial (diskret) und widersprechen der Vorstellung einer kontinuierlichen
Entwicklung bzw. verschiedener Intensitäten einer Störung oder auch
kontinuierlicher Übergänge zwischen verschiedenen Kategorien.
Reliabilität
und Validität und Objektivität der Klassifikationen
Reliabilität:
Zuverlässigkeit der Messung bzw. Kategoriesierung (Wiederholungs-reliabilität-
zeitlich bzw. in Bezug auf denselben Diagnostiker; Interrater-Reliabilität)
Validität:
nicht unmittelbar diagnostisch erhobene Kriterien für die Störung sind
nachweisbar gegeben (sind in der Vorgeschichte, gleichzeitig oder später
gegeben)
Objektivität des diagnostischen Vorgangs: ist zwar durch halbstandardisierte
Interviewmanuale verbessert, aber dennoch nicht wirklich gegeben. Die Qualität
der Klassifikation hängt also immer auch von der Sorgfalt und Fähigkeit
und den persönlichen Gewichtungen des Diagnostikers ab.
Quelle: uni zürich,
http://www.psych.unizh.ch/klipsy/rink/psys99b2.html
Hervorhebungen, Kürzungen und Anmerkungen von mir. M.S.