Arme Irre
Irresein
heißt, einer Minderheit anzugehören, obwohl ca. ein
Drittel der Bevölkerung zumindest zeitweise als
"psychisch krank" eingestuft wird. Diese scheinbare
Minderheit wird von ihrer Umgebung, vielen der
vermeintlichen Angehörigen der (vermeintlich) normalen
Mehrheit, als minderwertig angesehen. Ein florierender
Wirtschaftszweig aus Industrie, Ärtzteschaft,
Psychologen und Anderen verdient gut daran, den
Angehörigen der minderwertigen Minderheit
Produkte und Dienstleistungen (Drogen und Behandlung)
anzubieten oder zuweilen auch aufzunötigen. Das
Konglomerat aus Elend und Anpassung, das aus diesen
Darreichungen häufig entsteht, wird von vielen
Beteiligten oft als Heilerfolg wahrgenommen. Von den
nach Behandlungserfolg oft zu einem sinnfernen
Rentnerdasein genötigten Angehörigen der scheinbaren
Minderheit wird erwartet, daß sie nur noch begrenzt am
sozialen Betrieb teilnehmen und nicht weiter stören.
Da
steht er also nun, die/ der arme Irre. Arm,
weil aller Erfahrungs- und Wirkungsmöglichkeiten
beraubt und ein Irrer, weil seine Umgebung sich darauf
geeinigt hat, ihn sich - per Abschiebung ins
unsichtbare, aber wirkungsvolle Ghetto - vom
Leib zu halten. Zudem folgt auf die Stigmatisierung
als irre oft der soziale Abstieg, sodass es auch zu konkreter
Armut kommt. Die Kombination aus Kaltstellen,
Stigmatisieren und Verarmen- lassen ist eine Schande
für jede Gesellschaft und ist nicht
hinzunehmen.
Unerträglich
Irresein
heißt, an sich selbst und der Welt zu leiden, weil man
sich und/oder die Welt nicht "erträgt". Was der
Einzelne zu ertragen hat, ist vorgezeichnet u.a. durch
seine soziale Lage, seine Biografie, seine
Familiengeschichte und sein soziales Umfeld, die ein
jeweils verschiedenes Repertoire an
Handlungsspielräumen ermöglichen. Die Spielräume
gesellschaftlicher Art, insbesondere der Zugang zu
Bildung und Arbeit als Einkommensquelle und damit der
Raum für persönliche Entwicklung, können je nach
Wirtschaftslage neu zugewiesen werden. Diese und
andere Faktoren können zu einem Zustand führen, in dem
das Individuum sozusagen implodiert.
"Das Unerträgliche" wird für den Betroffenen
und in ihm überdeutlich. Wenn dann die
gewöhnlichen Auffangmöglichkeiten für "das
Unerträgliche" versagen, bietet das Irresein einen
radikalen und meist leidvollen Ausweg. Dieser "Weg"
führt allerdings nicht "heraus".
Katastrophe
Irresein
heißt, die "Katastrophe der Persönlichkeit" zu erleben
und die Fragilität des Menschseins "ohne Netz
und doppelten Boden" am eigenen Leib zu spüren. Das
Erleben kann von euphorischer Ekstase und Luzidität
über Entsetzen und Trauer bis zum psychischen
Vegetieren und "Sterben" reichen.
Gefährlich
Irresein
im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre hieß,
mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens
zwangssterilisiert und häufig auch von Staats wegen
durch Ärzte, Pflegepersonal oder Nazi- Hilfskräfte auf
die eine oder andere Art ermordet zu werden. Die
zugehörige Mentalität des Ausmerzens
unerwünschter Volksgenossen spukt
leider immer noch in vielen Hirnen, wenn sie auch
nicht mehr (noch nicht ?) in die Tat umgesetzt wird.
(Dass es im braunen Deutschland auch in dieser
Hinsicht Beispiele bewundernswerter Humanität gegeben
hat, steht auf einem anderen Blatt.) Die neue (??) Eugenik,
deren Ideologie "philosophisch" getarnt als
sogenannte Bio- Ethik daherkommt,
wird zur Zeit unverhohlen vorangetrieben, um demnächst
dem Entstehen behinderten, irren oder sonstwie
unangepassten Lebens schon im frühestmöglichen
Entwicklungsstadium einen Riegel vorzuschieben,
wahlweise durch Manipulation der Keimbahn etc., also
sozusagen unsichtbar, oder durch fruehe
Abtreibung (siehe die Folgen der sog.
Pränataldiagnostik in Indien, wo die Zahl der
Abtreibungen wegen des unerwünschten Merkmals weiblich
in die Höhe geschnellt ist). Diesen Bestrebungen
der Bio- und Health Industry sowie
der willfährigen Politiker und Mediziner und
"Philosophen" ist entgegenzutreten.
"Celebrity
Center"
Irresein
heißt, sich in guter Gesellschaft zu befinden:
Hans Christian Andersen, Antonin Artaud, Honore de
Balzac, Charles Baudelaire, Ludwig van Beethoven,
Irving Berlin, Hector Berlioz, William Blake,
Francesco Borromini, James Boswell, Charlotte Bronte,
Anton Bruckner, Robert Burns, Lord Byron, Paul Celan,
Ray Charles, Agatha Christie, Leonard Cohen, Samuel
Taylor Coleridge, Joseph Conrad, Noel Coward, Emily
Dickinson, Isak Dinesen, Gaetano Donizetti, Fjodor
Dostojevsky, Edward Elgar, T.S. Eliot, Ralph Waldo
Emerson, Michael Faraday, William Faulkner, F. Scott
Fitzgerald, Paul Gauguin, Theodore Gericault, Vincent
van Gogh, Nikolai Gogol, Graham Greene, Georg
Friedrich Händel, Friedrich Hölderlin, Henrik Ibsen,
Charles Ives, Henry James, Samuel Johnson, John Keats,
Sören Kierkegaard, Heinrich von Kleist, Wilhelm
Lehmbruck, J.M.R. Lenz, Franz Liszt, Salvador Luria,
Gustav Mahler, Wladimir Majakovsky, Osip Mandelstam,
Herman Melville, Kate Millett, Charles Mingus, Edvard
Munch, Alfred de Musset, Modest Mussorgsky, Gerard de
Nerval, Isaac Newton, Friedrich Nietzsche, Charlie
Parker, Boris Pasternak, Cesare Pavese, Edgar Allan
Poe, Jackson Pollock, Cole Porter, Ezra Pound, Bud
Powell, Alexander Puschkin, Sergei Rachmaninow, Percy
Bysshe Shelley, Robert Louis Stevenson, August
Strindberg, Torquato Tasso, Dylan Thomas, Georg Trakl,
Mark Twain, Maurice Utrillo, Rembrandt Harmens Van
Rijn, Paul Verlaine, Jan Vermeer, Walt Whitman,
Virginia Woolf, Emile Zola,...
...und
viele andere - allen gemeinsam ist nicht nur, das wir
heute noch von ihren kulturellen Leistungen zehren;
allen gemeinsam ist auch die Diagnose bzw. der
versuchte Rufmord, mit der sie zeitlebens oder auch
posthum als irre eingestuft wurden. Natürlich ist das
Irresein trotzdem keine Garantie für
menschliche, künstlerische oder sonstige "Größe".
Trotz des oft vorgetragenen Zusammenhangs zwischen
Genie und Wahnsinn ist der Durchschnitt des irren
Alltags eher banal. Das Irresein führt nicht an den
von der Gesellschaft als Elite gepflegten Randbereich.
Häufig genug allerdings stattdessen auf ein
Abstellgleis, auf dem das irre Normalelend
verwaltet und perpetuiert wird. Gegen diese interne
Abschiebung ist anzugehen.